Falsches Mitleid

Wenn das Pferd sich fragt, weswegen es jetzt schon wieder bedauert wird...


Speedgrazing Der Mensch neigt oft dazu, sein eigenes Wohlbefinden auf andere Lebewesen zu projizieren. Wenn er selbst was gut oder schlecht findet, ge- oder missfällt das bestimmt auch dem Tier. So ein Hühnchen zum Beispiel fühlt sich bestimmt nur auf offener, freier Fläche wohl, weil so ein enger, dunkler Hühnerstall doch die totale Tierquälerei ist... Dabei hat der Mensch nur mal wieder nicht die wahre Natur so eines Hühnchens bedacht, geschweige denn mal ein wildes Huhn in freier Natur beobachtet. Die findet man selten auf offener, freier Fläche. Da lauert nämlich der Habicht, der Marder und der Fuchs sowie der ein oder andere begabte Jäger in Gestalt eines Hundes, der sich auch gerne mal ein saftiges Hühnchen schmecken läßt. Deshalb drückt sich das Geflügel lieber in den Büschen herum, wo es auch seine Eier versteckt. Der tierliebe Gutmensch mag so einen Hühnerstall, wo die Hühnchen vor Freßfeinden geschützt auf ihren Nestern sitzen vielleicht ganz furchtbar und ungemütlich finden, so ein Huhn fühlt sich da aber tatsächlich ganz wohl.
Doch nun zurück zum Pferd, denn was ich mit dem Hühnerbeispiel ausdrücken wollte ist, daß der Mensch es zwar mit seinen Tieren meist gut meint, aber leider ganz oft schwer daneben liegt, wenn es darum geht, sich in sein Tier hineinzuversetzen oder versucht, seine Bedürfnisse oder Vorlieben zu ergründen... ist halt nicht so einfach, sich vorzustellen, man sei ein Pferd...
So ist es mir ergangen, als ich krankheitsbedingt lange Zeit nicht imstande war, mein Pferd am Boden oder im Sattel zu bewegen. An der Alternative, die meinem Pferd zu seiner täglichen Bewegungseinheit verhelfen konnte, ging ich jeden Tag geflissentlich vorbei. Dieses unsägliche Metallgestell, das schon von Weitem schrie:
„Dies hier ist ein Traberstall!“ Dieses Karussell, in das man gleich mehrere Pferde rein stecken und in dem sie dann stundenlang bei gleich bleibendem Tempo im Kreis spazieren konnten. Die Pferde sind darin völlig frei und werden auch nicht angebunden. Große „Paddel“ aus Gittermetall erinnern die Pferde daran, nicht stehen zu bleiben und nicht die Richtung zu wechseln. Ich weiß nicht woran es liegt, aber aus irgendeinem Grund finde ich, daß dieses Konstrukt ziemlich nach … Folter aussieht. Mir würde es jedenfalls nicht gefallen, in dem Ding ständig im Kreis laufen zu müssen, bis jemand so gnädig ist, mich wieder da raus zu holen. Also findet mein Pferd das bestimmt auch ganz schrecklich und will nicht da rein. Und wenn ich ihn doch da rein packe, dann zwinge ich ihn zu etwas, was er nicht will und dann haßt er mich bestimmt dafür! Davon war ich zutiefst überzeugt und war voll des Mitleids für die Pferde, die darin täglich bewegt wurden.

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Bis mein Pferd eines Tages deutlicher mit mir werden musste. Sonst ist er ja mehr oder weniger geduldig mit mir, wenn ich wieder zu doof bin, ihn sofort zu verstehen aber an diesem Tag hatte er die Faxen dicke. Er wollte sich nicht putzen und betüdeln lassen oder im Korall gescheucht werden. Er platzte fast vor Energie und wollte raus und sich bewegen. In meinem gebrechlichen Zustand war ich kaum in der Lage ihn zu führen, was auch kaum nötig war, denn er war schon ganz eigenständig unterwegs ins Karussell. Ich geleitete ihn hinein und stellte mit gemischten Gefühlen den Motor an, der das Karussell in Bewegung setzte. Mein Dicker stellte sich auf die Hinterbeine, machte einen kleinen Bocksprung und trabte los. Eigentlich soll er darin Schritt gehen. Aber zuerst muss noch das Grün an den Rändern weg gezupft werden. Dafür bleibt er gerne stehen und trabt dann wieder auf, wenn das hintere Paddel zu nahe kommt. Die erste Stunde tobt er so darin ein bisschen herum, bis er sich eingelaufen hat. Das schafft er, ohne sich zu verletzen und verbindet dabei Grasen und Laufen zu seiner eigenen Art des „Speedgrazing“. Er ist beschäftigt und in Bewegung und ich kann mich daneben stellen und meinem Pferd beim Pferd sein zu gucken.
Konnte das sein, daß mein Dicker tatsächlich Spaß in dem gruseligen Gebilde hatte? Wie war das möglich?!? Während ich mich noch verwundert am Kopf kratzte, lernte ich gleich die zweite Lektion:
Hinter mir in den anderen Ställen war Tumult ausgebrochen. Die Traber, die gerade von der Rennbahn gekommen waren und jetzt ein paar Wochen Rennpause hatten, bemerkten sofort, daß das Karussell in Betrieb war und standen jetzt allesamt in den Startlöchern und scharrten mit den Hufen, weil sie mitmachen wollten! Jetzt war ich völlig fertig. Die mochten das Ding! Die fanden das gar nicht schlimm, hintereinander im Kreis zu laufen! Pferde brauchen nicht nur Bewegung, die wollen sich tatsächlich bewegen! Welch bahnbrechende Erkenntnis! Wieder so eine Sache, wobei sich der Mensch nicht mit seinem Pferd vergleichen darf. Der Mensch braucht zwar auch Bewegung, genau wie das Pferd, das heißt aber nicht, daß er das auch will! Und da der Mensch, der ganz oft keinen Bock auf Sport und Bewegung hat, dazu neigt, seine Empfindungen auf sein Pferd zu übertragen, meint er, er würde seinem Pferd was Gutes tun, wenn er ihm großzügig mal einen Tag „Pause“ verordnet. Das ist aber alles andere als im Sinne des Pferdes.
Also, was haben wir daraus gelernt? Pferde brauchen nicht bloß Bewegung, die wollen sich tatsächlich bewegen! Sogar in so einem klapprigen, quietschenden Gruselkarussell! Mitleid ist also keinesfalls angebracht. Ganz besonders nicht, wenn man genauer hinsieht und mit Erstaunen feststellt, wie viel Spaß der behütete Zosse in dem Gerät hat, das man selbst schon als Folterinstrument eingeordnet hatte. Diese Erkenntnis lässt einen direkt darüber nachgrübeln, zu welchen Gelegenheiten man noch alles nicht richtig hingeguckt und sein Pferd falsch verstanden, bzw. ihm die eigenen Empfindungen aufgedrückt hat...


Text & Foto: Nadja von der Hocht